«Catch me if you can!» – Eine Kulturgeschichte der Flitzer

«Catch me if you can!» – Eine Kulturgeschichte der Flitzer

Ian Bradshaw

Vor fünfzig Jahren rannte der erste Flitzer an einem Sportanlass über den Platz. Was treibt diese Menschen dazu, sich vor aller Augen zu entblössen?

Esthy Baumann-Rüdiger (Text), Martin Berz (Bildredaktion) 7 min
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Alles begann mit einer Wette. Es war der 20. April 1974, als der Australier Michael O’Brien das Rugby-Spiel zwischen England und Frankreich in London besuchte. Der damals 25-jährige Buchhalter hatte bereits ein paar Bier intus, wie er Jahre später erzählen sollte. Dann forderte ihn ein Engländer heraus: «Zehn Pfund, wenn du nackt übers Spielfeld rennst!» Für O’Brien war dies Ansporn genug.

Was dann passierte, sollte als berüchtigte Pioniertat in die Geschichtsbücher eingehen: Unter den Augen Zehntausender von Zuschauern – unter ihnen auch die Königsfamilie – rannte O’Brien splitternackt über das Spielfeld. Er wurde umgehend festgenommen. Der Fotograf Ian Bradshaw hielt jenen Moment fest, als ein Polizist seinen Hut zweckentfremdete, um O’Briens Genitalien zu verdecken.

Der Australier Michael O’Brien war der erste Flitzer an einem Sportanlass.

Der Australier Michael O’Brien war der erste Flitzer an einem Sportanlass.

Ian Bradshaw

Das Foto ging um die Welt. Und zwar nur deshalb, weil es – Hut sei Dank – als jugendfrei eingestuft wurde. Das amerikanische Magazin «People» sollte es später zum «picture of the decade» küren. Und der Fotograf Bradshaw gewann damit einen renommierten World Press Photo Award.

Michael O’Brien gilt zwar als erster Flitzer der Sportwelt. Ganz neu war die Praxis ausserhalb des Sports aber nicht. Anfang der 1970er Jahre kam es an amerikanischen Universitäten und Colleges immer wieder zu Nacktaktionen: junge Studenten, die sich aus Spass oder zur Selbstermächtigung immer wieder öffentlichkeitswirksam entblössten. Der Trend erhielt den Namen «campus streaking», und dass dieser ausgerechnet in Bildungseinrichtungen populär wurde, dürfte kein Zufall sein.

Ein Campus-Streaker fährt im Juli 1974 über den Campus der Florida Atlantic University.

Ein Campus-Streaker fährt im Juli 1974 über den Campus der Florida Atlantic University.

Nick Arroyo / Imago

Der Sportsoziologe Felix Kühnle hat sich in den letzten Jahren intensiv mit Flitzern beschäftigt. Über die Campus-Streaker sagt er: «Im subkulturellen Biotop der Colleges und Universitäten erhielten gleichaltrige Heranwachsende die Chance, ihre eigenen Verhaltensregeln jenseits von traditionellen Erwachsenennormen und den Verpflichtungen der späteren Arbeitswelt zu entwickeln und auszuleben.» Die temporäre Nacktheit in der Öffentlichkeit habe als eine Art Freiheitssymbol gedient, das die jungen Erwachsenen sich selbst gegeben hätten.

Die Flitzer-Aktionen der 1970er Jahre stiessen auf einen fruchtbaren Boden. Die Gesellschaft machte gerade einen tiefgreifenden Wandel durch. Bereits Ende der 1960er Jahre hatte die Hippiebewegung die sexuelle Befreiung in Gang gesetzt. 1972 wurde mit «Deep Throat» erstmals ein Pornofilm in den amerikanischen Kinos gezeigt. Der Film wurde nicht nur ein Erfolg, sondern auch zu einem gesellschaftlichen Phänomen. «Sex avancierte in jener Zeit zu einem öffentlichen Thema», sagt Kühnle.

Michael O’Brien hat den Streaker-Trend schliesslich in die Sportwelt getragen. Genau genommen war er aber nicht der Erste. Morganna Roberts sorgte bereits im Jahr 1969 mit Flitzer-ähnlichen Aktionen für Furore, wobei sie dabei zwar knapp bekleidet, jedoch nie nackt war. Ihre umstrittene Karriere begann bei einem Baseball-Spiel der amerikanischen Major League. Die 22-jährige Amerikanerin rannte über das Feld, drückte dem Starspieler Pete Rose einen Kuss auf die Wange und machte sich sogleich wieder davon.

Morganna Roberts küsst den Star der Dodgers, Wes Parker, auf dem Spielfeld.

Morganna Roberts küsst den Star der Dodgers, Wes Parker, auf dem Spielfeld.

Bettmann / Getty

«The Kissing Bandit», wie Morganna Roberts bald im ganzen Land genannt wurde, wiederholte die Aktion über Jahre hinweg bei anderen Sportveranstaltungen.

Die «Flitzerepidemie» von 1974

Die Streaker, wie Flitzer auf Englisch heissen, traten 1974 so oft in Erscheinung, dass die Presse begann, von einer «Flitzerepidemie» zu sprechen. Das «Time Magazine» ging damals von einer Modeerscheinung aus. Sie sollten sich irren.

Denn die Flitzer waren längst in der Pop-Kultur angekommen. 1974 landete Ray Stevens mit dem Song «The Streak» einen Nummer-eins-Hit in den USA. Er besingt darin die Geschichte eines Flitzers.

Die «Flitzerepidemie» erreichte noch im selben Jahr die Schweiz. Eine nackte Frau stürmte die Bühne, als Hazy Osterwald mit seinem Sextett gerade das 25-jährige Bestehen der Formation feierte. Der Entertainer nahm es mit Humor.

Eine nackte Frau rennt am 22. April 1974 über die Bühne des Dancings Hazyland in Zürich.

Eine nackte Frau rennt am 22. April 1974 über die Bühne des Dancings Hazyland in Zürich.

Keystone

Auch prestigeträchtige Anlässe wie die Oscar-Verleihung blieben in jenem Jahr nicht von Flitzern verschont. Der Schauspieler und damalige Moderator David Niven war gerade dabei, die Schauspielerin Elizabeth Taylor anzukündigen, als hinter ihm ein nackter Mann die Bühne stürmte.

Es handelte sich bei dem Flitzer um den Künstler Robert Opel. Das Peace-Zeichen, das er dabei mit den Fingern formte, dürfte auch eine politische Botschaft gewesen sein: Die USA führten damals noch immer Krieg in Vietnam.

Der Schauspieler David Niven wird bei den Oscars 1974 von einem Flitzer mit Friedensabsichten überrascht.

Der Schauspieler David Niven wird bei den Oscars 1974 von einem Flitzer mit Friedensabsichten überrascht.

Imago

Frühe Flitzer waren mit plötzlichem Ruhm überfordert

Als wichtige Wegbereiterin des Flitzens gilt auch Erika Roe. 1982 rannte sie bei einem Rugby-Spiel im Twickenham-Stadion – demselben Stadion, in dem auch Michael O’Brien seinen Flitzer-Moment hatte – oben ohne über das Spielfeld.

Es sei eine spontane Aktion gewesen, wird sie vierzig Jahre später der britischen «Sun» erzählen. «Die Menge hat so gelangweilt gewirkt, als sie während der Halbzeit-Pause von einem Mann in Gorilla-Kleidung unterhalten wurde.» Also zog Erika Roe ihr Top aus und rannte los. Auch sie wurde umgehend von der Polizei gestoppt, wieder musste ein Hut als Bedeckung herhalten. Bis heute gilt Erika Roe als berühmteste Flitzerin Grossbritanniens.

Wie berühmte Flitzer vor ihr, wurde auch Roe vom plötzlichen Ruhm überwältigt: «Während drei Jahren hat mein Telefon nonstop geklingelt.» Sie hatte das Berühmtsein – ebenso wie Michael O’Brien oder Morganna Roberts – nicht gesucht. «Gerade deshalb entsprechen diese drei Figuren in besonderer Weise dem Heldenschema», erklärt der Sportsoziologe Felix Kühnle. «Denn ein Held sollte am besten gar nicht wissen, dass er einer ist.»

Erika Roe rennt ohne Oberteil über den Rasen des Twickenham-Stadions – und wird festgenommen.

Erika Roe rennt ohne Oberteil über den Rasen des Twickenham-Stadions – und wird festgenommen.

PA Images / Getty

Erhöhte Kontrollen fördern den Ansporn

Die Aktionen aus den 1970er Jahren haben zahlreiche Nachahmer gefunden. Flitzer sind in den vergangenen fünfzig Jahren häufiger Bestandteil von Sportveranstaltungen geworden – wenngleich die Veranstalter alles tun, um solche Störaktionen zu unterbinden. Die Sicherheitsmassnahmen wurden massiv erhöht.

Entgegen den Behauptungen mancher Flitzer dürften solche Aktionen heute kaum noch spontan entstehen. «Doch die verschärften Massnahmen spornen Flitzer zusätzlich an», sagt Felix Kühnle. «Zumal die Dilettanten schnell aus dem Verkehr gezogen werden.»

Zu flitzen bedarf heute akribischer Vorbereitung. Manche Flitzer simulieren eine Behinderung oder verstecken sich stundenlang, um möglichst nahe an das Spielfeld zu gelangen. Der Wiederholungstäter Mark Roberts hat sich einmal als Schiedsrichter verkleidet, um den Platz zu stürmen.

Nach eigenen Angaben ist Roberts bereits an mehr als 380 Sportveranstaltungen als Flitzer aufgefallen. Seine Aktionen waren in den nuller Jahren derart gefürchtet, dass die britische Regierung ihm während der Fussball-WM 2006 sogar ein Ausreiseverbot auferlegte.

«Ich will gejagt werden», sagt der Flitzer Mark Roberts. Im Bild bei der Official British Open Championship im Juli 1996, dem ältesten Golfturnier der Welt.

«Ich will gejagt werden», sagt der Flitzer Mark Roberts. Im Bild bei der Official British Open Championship im Juli 1996, dem ältesten Golfturnier der Welt.

Imago

Zu einem seiner berühmtesten Auftritte zählte jener am Super Bowl 2004. Ein ganzes Jahr lang habe er sich darauf vorbereitet. Seine Aktion gipfelte in einer Verfolgungsjagd, an der sich Spieler beider Teams und mehrere Sicherheitsleute beteiligten.

Diese Verfolgungsjagden seien ein wesentlicher Ansporn der Flitzer, sagt Felix Kühnle. «Die Flitzer sehen von Anfang an ihrem Schicksal als Beute entgegen.» Ihr Scheitern sei Teil der Inszenierung. «Denn der Flitzer will weniger entkommen als vielmehr gejagt und gefangen werden.»

Ein einziges Mal blieb die Verfolgungsjagd auf Mark Roberts aus. Er tauchte gerade nackt bei einem renommierten Golfturnier auf, und es passierte nichts. Enttäuscht gab er später zu Protokoll: «I want to get chased. I want to see how long it takes to take me down.» («Ich will gejagt werden. Ich will sehen, wie lange es dauert, bis man mich zu Fall bringt.»)

An über 380 Anlässen ist Mark Roberts nach eigenen Angaben bereits geflitzt.

An über 380 Anlässen ist Mark Roberts nach eigenen Angaben bereits geflitzt.

Mary Evans / Imago

«Der Flitzer ist wie ein Parasit»

Was aber ist es, das Menschen dazu bringt, sich vor den Augen aller Welt zu entblössen? Die sexuelle Revolution liegt schon einige Jahrzehnte zurück, Nacktheit vermag nicht mehr die gleiche Aufregung zu erzielen wie in den 1970er Jahren. Ohnehin sorgen die Flitzer heute beim Publikum eher für Erheiterung als für Entrüstung.

Das Flitzen mit einer blossen Bieridee oder einer Mutprobe zu erklären, greife zu kurz, sagt der Soziologe Felix Kühnle. «Ebenso wenig sollte man das Phänomen auf narzisstische, egoistische oder exzentrische Verhaltensmotivationen zurückführen.»

Kühnle erklärt: «Der Flitzer ist in einem soziologischen Sinne ein Parasit: Er setzt sich gewissermassen an einen Tisch, der für andere gedeckt ist. Dort isst er dann umso genussvoller und unverschämter mit.» Der Flitzer lenke die Aufmerksamkeit, die eigentlich auf den Sport fokussiert sei, auf sich. «Und zwar, indem er mit Klamauk in der kommerziellen Öffentlichkeit des Sports Chaos stiftet», sagt Felix Kühnle. «So macht er sich als Individuum sozial sichtbar.»

Das Flitzen sei letztlich eine mehrfache Grenzüberschreitung: «Man entblösst sich selbst in der Öffentlichkeit, besudelt den heiligen und symbolisch überhöhten Raum des Sports, der nur Schiedsrichtern und Spielern vorbehalten ist», sagt der Soziologe.

Der Flitzer sorgt dafür, dass die «soziale Architektur des Sports», wie Kühnle es nennt, aufgebrochen wird: «Athleten werden plötzlich zu Beobachtern des Geschehens, und Schiedsrichter werden ihrer Verwarnungs- und Sanktionierungsrechte beraubt», sagt Kühnle. «Und das Publikum wird dazu gebracht, einer Störaktion beizuwohnen.»

Flitzer wie Mark Roberts haben den Effekt perfektioniert. Immer wieder erlangten Serial Streaker zweifelhafte Berühmtheit. Es gelang einigen von ihnen auch, Geld mit ihren Aktionen zu verdienen. Roberts tat dies, indem er etwa Werbung auf seiner Haut platzierte, während er flitzte, Streaker der jüngeren Vergangenheit nutzten den kurzen Ruhm, um anschliessend auf ihren Social-Media-Plattformen zu werben.

Die drei Pioniere des Flitzens, Michael O’Brien, Erika Roe und Morganna Roberts, flitzten noch ohne finanzielles Kalkül. «Sie waren Wegbereiter, und in dieser Hinsicht gewissermassen ihrer Zeit voraus», sagt Felix Kühnle. «So gesehen führten alle Flitzer, welche die Sportbühnen nach ihnen aufsuchten, bloss eine kopierte Existenz.»

Dem Serial Streaker Mark Roberts dürfte dies egal sein. Nach seinen Aktionen musste er nach eigenen Angaben auch schon nackt in einer Zelle ausharren. Nicht immer habe er die Kleider beim Austritt zurückerhalten, wie er später berichtete. Aber als er nach der Festnahme beim Super Bowl 2004 die Zelle wieder verliess, soll ihm ein Polizist gesagt haben: «You are now part of American history.» Und das wird für Mark Roberts genug gewesen sein.

Sein berühmtester Auftritt: Mark Roberts rennt am 1. Februar 2004 beim Super Bowl in der Halbzeit übers Spielfeld.

Sein berühmtester Auftritt: Mark Roberts rennt am 1. Februar 2004 beim Super Bowl in der Halbzeit übers Spielfeld.

Steve Campbell / Houston Chronicle / Getty